Viele Menschen glauben, Burnout sei eine Frage der Erschöpfung. Zu viel Arbeit, zu wenig Erholung. Doch oft ist Burnout in Wahrheit eines: Der Verlust von Sinn.
Man brennt nicht aus, weil man zu viel gibt.
Man brennt aus, weil man für nichts mehr brennen darf.
In vielen Unternehmen herrscht ein unausgesprochener Anpassungsdruck. Man lernt früh, die Wahrnehmung nach außen zu richten: Was will mein Umfeld? Was ist erlaubt? Was ist zu riskant?
Doch dabei verkümmert die innere Stimme.
Was ist gut für mich? Geht es mir damit gut? Was ist mir wichtig?
Diese Fragen werden leise, bis sie ganz verschwinden.
Dann hört man Sätze wie: „Es ist ja nur ein Job.“
Aber wer 40 oder 50 Stunden pro Woche arbeitet, der lebt nicht neben seinem Job.
Der Job IST das Leben.
Wie wir arbeiten, mit wem wir arbeiten und ob wir dabei wachsen dürfen – das prägt unsere Energie, unsere Freude, unsere Gesundheit.
Ein Job ist nicht nur ein Job. Er ist der Ort, an dem wir uns entweder entfalten – oder langsam innerlich verloren gehen.
System(um)bauer und Systembewahrer
Es gibt zwei Kräfte, die jede Organisation braucht: System(um)bauer und Systembewahrer.
System(um)bauer erschaffen Neues. Sie denken anders, sie riskieren, sie stören den Status quo.
Systembewahrer sichern Stabilität, Ordnung und Kontinuität. Ohne sie würde jedes System ins Chaos kippen.
Doch wenn die Systembewahrer die Oberhand gewinnen, erstickt das System jede Entwicklung.
Neue Ideen werden als Störung empfunden, nicht als Chance.
Und Menschen, die etwas bewegen wollen, werden zu anstrengenden Querulanten erklärt.
Menschen werden in vielen Organisationen nonverbal wie entmündigte Kinder behandelt. Für einige mag das bequem erscheinen – sie verzichten auf Selbstwirksamkeit, weil sie Verantwortung abgeben können. Doch dieses stille Systemkonstrukt funktioniert über künstlich erzeugte Scham- und Schuldgefühle und subtile Erwartungen: Sei loyal, sei bescheiden, stell keine Fragen.
Bei den Systembewahrern funktioniert das anstandslos. Sie fühlen sich sicher, solange die Regeln bestehen.
System(um)bauer – jene, die Dynamik und Weiterentwicklung suchen – durchschauen dagegen die Manipulation über Scham. Sie machen diese Strukturen sichtbar und werden zu Systembrechern: Menschen, die den Mut haben, krankmachende Muster zu benennen, nicht um zu zerstören, sondern um zu heilen.
Denn Menschen in Jobs sind erwachsen – längst einem bevormundenden System entwachsen. Wer das ignoriert, wird in Zeiten des Wandels, in denen System(um)bauer Hochkonjunktur haben, im künstlich erschaffenen Sumpf der Systembewahrer stecken bleiben und untergehen.
Wenn Energie nicht fließen darf: eine Elektrotechnik‑Analogie
Großer Widerstand → kaum Stromfluss → Spannung bleibt bestehen → Bauteil erhitzt sich, kann durchbrennen.
→ Die Energie kann nicht abfließen, das System überhitzt intern.
Übertragen auf Unternehmen: Menschen mit hoher innerer Spannung (Antrieb, Kreativität, Gestaltungswille) treffen auf Systeme mit hohem „Widerstand“ (Anpassungsdruck, starre Regeln, politische Spiele).
Der Energiefluss – echte Wirksamkeit – bleibt aus. Die Folge ist Überlastung durch Blockade: innere Unruhe, Zynismus, Sinnverlust – schließlich Burnout.
Burnout ist dann nicht primär Energiearmut, sondern Energie‑Stau dessen permanente Kontrolle dann aber zu Resignation und Depression führen kann.
Zur Einordnung: In der Forschung wird Burnout seit langem als Passungsproblem zwischen Mensch und Arbeitsumfeld beschrieben – insbesondere in sechs Bereichen: Workload, Kontrolle, Anerkennung, Gemeinschaft, Fairness, Werte Maslach & Leiter, 1999. Wenn diese Passung fehlt, steigt die „organisatorische Resistenz“ – und die Spannung staut sich.
Parallelen zum Systemerhalt – und zur Logik totalitärer Systeme
Ein verwandtes Phänomen beschreibt der Artikel „Toxische Unternehmenskultur erkennen – Wenn stiller Machtmissbrauch zur Struktur wird“. Dort wird deutlich, dass stiller Machtmissbrauch nichts anderes ist als eine institutionalisierte Schamkultur: Kontrolle und Loyalität werden über subtil erzeugte Schuldgefühle in Verbindung mit Ausgrenzung aufrechterhalten. Genau diese Dynamik findet sich auch in Organisationen, die auf Systembewahrung ausgerichtet sind – sie erzeugen Anpassung, indem sie Scham und Deutungshoheit als stille Steuerungsinstrumente nutzen.
Systeme, die vor allem Stabilität sichern wollen, entwickeln häufig Organizational Silence: Menschen halten Kritik zurück, Informationen werden nicht geteilt, Veränderung wird blockiert Morrison & Milliken, 2000. Das erzeugt eine Kultur der Anpassung statt der Auseinandersetzung.
Historisch beschreibt Hannah Arendt, dass Einsamkeit/Isolation Nährboden für totalitäre Tendenzen ist – Menschen verlieren die Verbindung zur eigenen Urteilskraft und passen sich an „die Linie“ an. Wo Abweichung sanktioniert und Sinn entzogen wird, kippt Selbstdenken in Gehorsam.
Aus der Psychologie ist erlernte Hilflosigkeit zentral: Wiederholte Erfahrung von Unkontrollierbarkeit führt dazu, dass Menschen Handlungsfähigkeit und Verantwortungsübernahme aufgeben (Seligman et al.). In Organisationen zeigt sich das als: „Es bringt eh nichts“ – die innere Spannung bleibt, aber Handlung bleibt aus.
Weitere Studien und Quellen zu Schamkultur, Organizational Silence und Coachingwirksamkeit:
- Durrah (2023): The Price of Silence, Isolation, and Cynicism – The impact on occupational frustration – zeigt, wie Schweigen und Zynismus zu Frustration und innerer Erschöpfung führen.
- Kim (2024): Silence in the workplace – what do we know from research? – Überblicksstudie zu Organizational Silence und den psychologischen Folgen.
- de Haan et al. (2020): New findings on the effectiveness of the coaching relationship – analysiert, welche Coachingformen langfristig wirken.
- Barry, MacNamara & Taylor (2025): Performance vs. Development Coaching – vergleicht leistungs- und entwicklungsorientiertes Coaching.
- Diller et al. (2020): Become the best coach you can be – untersucht, wie Ausbildung und Haltung Coachingqualität beeinflussen.
Weiterführende Quellen (Auswahl):
- Morrison & Milliken (2000): Organizational Silence – Academy of Management Review
- Maslach & Leiter (1999): Six Areas of Worklife – Modell zu Burnout‑Treibern
- Seligman/Overmier/Hiroto (1975/76): Erlernte Hilflosigkeit – Tier & Mensch
- Arendt (1951/2020‑Aufbereitung): Einsamkeit als Nährboden totalitärer Systeme
Woran erkenne ich gutes Coaching/gute Therapie? – Systembewahrer vs. System(um)bauer
Systembewahrendes Coaching/Therapie (nicht hilfreich bei Entfaltung):
- Ziel: Anpassung an bestehende Regeln („So läuft es hier“).
- Fokus auf Harmonie, Konfliktvermeidung, „Mach dich kleiner, dann passt es“.
- Fokussiert auf „Was ist ihr Eigenanteil daran?“ – Impliziert sofort die Verantwortung des Einzelnen am Systemversagen.
- Optionen: entweder bleiben oder gehen – ohne echte Gestaltungsvarianten.
- Diagnostische Fragen fehlen: Was brauchst du wirklich? bleibt unbeantwortet.
System(um)bauendes Coaching/Therapie (förderlich für Entwicklung):
- Ziel: Wirksamkeit & Passung – innen und außen.
- Erklärt die Systemlogiken (Macht, Entscheidungen, heimliche Regeln) und eröffnet Mehrweg‑Optionen: innerhalb und außerhalb des Systems.
- Arbeitet mit Spannung statt dagegen: Konflikte werden strukturiert nutzbar gemacht.
- Leitfragen: Was ist dir wichtig? Wo staut sich Energie? Welche Rahmen brauchst du, damit Energie fließt? Welche Hebel im System gibt es – und welche außerhalb?
Merkhilfe:
Bewahrer richten dich im System ein.
Bauer erweitern deine Handlungsräume – und bauen notfalls neue.
Nach dieser Unterscheidung zeigt sich, wie grundlegend die Haltung in Coaching und Therapie die Wirkung beeinflusst. Studien belegen, dass ein rein anpassungsorientiertes Coaching/Therapie kurzfristig Stress reduziert, langfristig aber mit geringerer Selbstwirksamkeit und höherer Erschöpfung einhergeht (Grant, 2014; de Haan et al., 2016). Systemisch‑entwicklungsorientiertes Coaching/Therapie dagegen stärkt Resilienz und Innovationsfähigkeit, weil es Spannungen nicht vermeidet, sondern reflektiert nutzt (Cavanagh & Lane, 2012; Jones, 2020).
Weitere Studien belegen diesen Zusammenhang:
- de Haan et al. (2020): New findings on the effectiveness of the coaching relationship – zeigt, dass anpassungsorientiertes Coaching kurzfristig wirkt, aber langfristig die Entwicklung hemmt.
- Yu et al. (2021): Therapist Adaptations to Evidence‑Based Practices and Associations with Implementation Outcomes – belegt, dass Anpassungen in Therapien ohne reflektierten Kontext zu schlechterer Wirksamkeit führen.
- Grant (2014): The Efficacy of Executive Coaching in Times of Organisational Change – zeigt, dass Entwicklungs‑Coaching nachhaltiger auf Selbstwirksamkeit wirkt als reine Anpassungsformate.
Zusammengefasst: Gutes Coaching/gute Therapie fördert Bewusstsein und Wahlfreiheit. Es hilft, die Logiken des Systems zu verstehen – aber nicht, sich ihnen blind zu unterwerfen. Es begleitet Menschen dabei, ihren eigenen Energiefluss wiederzufinden: manchmal im, manchmal außerhalb des Systems.
So entsteht echte Entwicklung, die nicht Anpassung, sondern Lebendigkeit erzeugt.
Das Dilemma moderner Unternehmen
Unternehmen investieren Millionen in Programme für Therapie, Coaching und Resilienz – und fragen sich gleichzeitig, warum Menschen trotzdem innerlich kränker werden oder kündigen. Die Antwort ist einfach: Weil das System dasselbe bleibt.
Man kann Menschen nicht dauerhaft gesund coachen, wenn das Umfeld sie krank macht.
Man kann keine Kreativität erwarten, wenn Anpassung belohnt und Eigenverantwortung bestraft wird.
Aktuelle Metastudien (z. B. Theeboom et al., 2014; Jones et al., 2016) zeigen, dass Coaching‑Interventionen in Organisationen dann am wirksamsten sind, wenn gleichzeitig strukturelle Veränderungen begleitet werden. Bleibt das System unverändert, kehrt der Stress zurück – nur mit besserer Selbstkontrolle.
Echte Entwicklung braucht Mut
Entwicklung beginnt dort, wo man wagt, den inneren Kompass wieder zu aktivieren.
Wo man sich traut, Nein zu sagen. Wo man nicht mehr versucht, hineinzupassen, sondern authentisch zu wirken.
Echte Coaches/Therapeuten, echte Führungskräfte, echte Systeme haben eines gemeinsam: Sie halten Spannung aus, fördern Reibung und ertragen Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt.
Denn nur dort, wo etwas wackelt, beginnt Bewegung – und Bewegung ist der Anfang von Leben.
Gutes Coaching/gute Therapie fördert Bewusstsein und Wahlfreiheit. Es hilft, die Logiken des Systems zu verstehen – aber nicht, sich ihnen blind zu unterwerfen. Es begleitet Menschen dabei, ihren eigenen Energiefluss wiederzufinden: manchmal im, manchmal außerhalb des Systems.
So entsteht echte Entwicklung, die nicht Anpassung, sondern Lebendigkeit erzeugt.
Weitere spannende Artikel
- Sozialer Kannibalismus (Social Cannibalism) – wenn die Gesellschaft ihre Schwächsten frisst
- Interne Bewerbung DSGVO: Muss der Vorgesetzte informiert werden?
- Toxische Umgebung – oder liegt es an mir? 😔
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was ist die Hauptursache von Burnout laut diesem Artikel?
Burnout entsteht laut aktuellen Erkenntnissen weniger durch Überlastung, sondern durch Anpassungsdruck, Scham und Sinnverlust. Wenn Menschen ihre innere Energie nicht entfalten dürfen, staut sie sich – ähnlich wie Spannung in einem elektrischen System.
Wie unterscheidet sich Systembewahrung von System(um)bau?
Systembewahrung erhält bestehende Strukturen, auch wenn sie dysfunktional sind. System(um)bau bedeutet, Spannungen zuzulassen, um Wandel zu ermöglichen – eine Voraussetzung für echte Entwicklung.
Warum funktioniert systembewahrendes Coaching oder Therapie oft nicht langfristig?
Studien zeigen, dass Anpassungs-Coaching oder personenzentriertes Coaching (Therapie) zwar kurzfristig Stress senkt, aber langfristig Selbstwirksamkeit und Resilienz mindert (de Haan et al., 2020; Grant 2014). Entwicklungsorientiertes oder systemzentriertes Coaching (Therapie) stärkt dagegen das Bewusstsein und die Eigenverantwortung, weil es die Dynamiken des Umfeldes miteinbezieht und Wege mit oder aus dem Umfeld aufzeigt.
Wie kann man eine toxische Unternehmenskultur erkennen?
Typische Anzeichen sind stille Machtmechanismen, künstliche Schuldgefühle und fehlende Konfliktkultur. Mehr dazu im Artikel „Toxische Unternehmenskultur erkennen – Wenn stiller Machtmissbrauch zur Struktur wird“.
Was können Unternehmen tun, um Burnout vorzubeugen?
Sie sollten nicht nur Einzelpersonen coachen, sondern Strukturen hinterfragen, die Anpassung und Angst fördern. Nachhaltige Prävention entsteht durch offene Kommunikation, gelebte Verantwortung und psychologische Sicherheit.





