Sozialer Kannibalismus (Social Cannibalism) – wenn die Gesellschaft ihre Schwächsten frisst

Sexuelle Belästigung, Mobbing, Bossing, Gaslighting, Victim Blaming, Schweigespirale – wir kennen diese Begriffe. Aber was passiert, wenn all diese Dynamiken zusammenwirken und ein Opfer nicht nur einmal, sondern immer wieder daran zerbrechen lassen? Ich nenne das Sozialer Kannibalismus (Social Cannibalism).

Was ist Sozialer Kannibalismus?

Sozialer Kannibalismus beschreibt das Phänomen, dass Gesellschaften ihre Schwächsten nicht schützen, sondern sie systematisch auffressen:

  • Opfer werden beschämt, gebrochen, isoliert.
  • Täter bleiben geschützt, oft sogar gefeiert.
  • Systeme (Unternehmen, Justiz, Psychotherapie) reproduzieren Täterlogik, indem sie das Opfer in Frage stellen.

Kernbild: Das System frisst seine Schwächsten – nicht mit Zähnen, sondern mit Schweigen, Abwertung und Schuldumkehr.


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Beispiele aus der Realität

  • Arbeitswelt: Wer sexuelle Belästigung anzeigt, riskiert Kündigung und – von vielen unbemerkt – eine „Revanche“ des Ex-Chefs, indem dieser zukünftigen Arbeitgebern informelle Warnungen zukommen lässt. → Das sind „nur“ DSGVO-Verstöße, die selten thematisiert oder geahndet werden. Für das Opfer ist es die Vernichtung seiner Existenz.
  • Psychotherapie: Betroffene hören, sie müssten ihren Eigenanteil suchen. Statt Schutz gibt es zweite Viktimisierung – viele gehen danach sogar überzeugt nach Hause, dass sie selbst das Problem seien.
    Viele Therapeut:innen verstehen noch nicht mal im Ansatz die viktimisierenden und diskriminierenden Dynamiken die in der Gesellschaft zum täglichen Normal gehören und fest in Netzwerken etabliert sind. Das ist eine gefährliche Lücke, die es ermöglicht die Ursache beim jeweiligen Opfer zu suchen, anstatt zu erkennen, dass es für jede(n) Einzelne(n) schwer wenn nicht gar unmöglich ist, sich diesen Dynamiken wirkungsvoll zu entziehen. Zusätzlich gibt der sogenannte „Eigenanteil“ das Gefühl, man könne solche gesellschaftlichen Dynamiken durch eine Verhaltensänderung bei sich selbst verändern. Was an sich schon wieder als Gaslighting auf Therapie-Ebene eingestuft werden kann.
  • Gesellschaft: Täter-Netzwerke und Schweigespiralen sorgen dafür, dass Betroffene nicht ernst genommen werden. Oft wird gezielt verhindert, dass sie soziale Anerkennung und Unterstützung erhalten. Von außen erinnert das eher an das berühmte Milgram-Experiment (Gehorsam gegenüber Autorität) als an gesunden gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Folgen für Opfer und Gesellschaft

  • Individuell: Traumatisierung, Jobverlust, psychischer und sozialer Abstieg.
  • Kollektiv: Misstrauen, Angstkultur, zerstörtes Zusammenleben.
  • Langfristig: Eine Gesellschaft, die ihre Schwächsten frisst, zerstört ihr eigenes Fundament.

Zerstörung von Netzwerken und Familien

Eine weitere Dimension des sozialen Kannibalismus ist die Spaltung von Partnerschaften, Familien und Freundeskreisen. Gerade ein stabiles Familien- und Freundesnetz ist die beste Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Wenn solche Netze zerfallen, wird der Einzelne schwächer und anfälliger.
Ohne Rückhalt bleibt oft nur die Anpassung an toxische Systeme. Wer nicht vernetzt ist, muss nach der Pfeife eines jeden toxischen Netzwerkes tanzen – ob man will oder nicht.


Wissenschaftliche Grundlagen

1) Soziale Isolation & Gesundheit

  • Was die Forschung sagt: Soziale Isolation erhöht das Risiko für Depression, Angst, Schlafprobleme und kognitive Einbußen. Große Reviews und Gesundheitsbehörden warnen auch vor erhöhten Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und frühzeitigen Tod.
    Quellen: Überblicksartikel zu Isolation und Gesundheit (PMC), U.S. Surgeon General Advisory zu Einsamkeit/Isolation (HHS PDF), WHO-Hinweis zu Gesundheitsrisiken durch Isolation (WHO).

Warum das hier wichtig ist: Wer kein durchgängig etabliertes soziales Netz hat, ist wehrloser gegenüber Bossing, Gaslighting & Co. – und erholt sich schlechter von Angriffen.

2) Mobbing/Bossing am Arbeitsplatz

  • Befund: Mobbing führt zu starker psychischer Belastung, Schlafstörungen, Stress und kann langfristig die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Auch Kündigungsabsicht und Fluktuation steigen deutlich.
    Quellen: Review zu Folgen von Workplace Bullying (PMC); Studie zu Mobbing, psychischer Belastung & Kündigungsabsicht (PMC); Überblick zu Gesundheitsproblemen nach Mobbing (Europe PMC).

Warum das hier wichtig ist: Das „Auffressen“ passiert nicht nur moralisch – es hat messbare gesundheitliche und ökonomische Folgen.

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3) Schweigespirale & institutionelle Zweitverletzung

  • Schweigespirale: Menschen schweigen aus Angst vor Isolation, besonders bei kontroversen Themen – die (scheinbare) Mehrheitsmeinung setzt sich durch, Minderheiten verstummen. Man kann ja eh nichts machen. Leider nur ein Ausdruck einer künstlich inszenierten Ohnmacht.
    Quellen: Theorie der Schweigespirale nach Noelle-Neumann (Noelle-Neumann-Archiv; kompakte Einordnung: MassCommTheory).
  • Institutionelle Betrayal / Zweitviktimisierung: Institutionen, denen Betroffene vertrauen (Uni, Kirche, Militär, Unternehmen, Gesundheitswesen), können durch Abwiegeln, Vertuschen, Schuldumkehr zusätzlichen Schaden anrichten.
    Quellen: Forschungsübersicht Institutional Betrayal (Freyd u. a.) (Uni Oregon; Paper-Übersicht PDF).
  • Autoritätsgehorsam: Das klassische Milgram-Experiment zeigt, wie weit Menschen im Gehorsam gehen, wenn Autoritäten Druck ausüben – eine Mahnung, warum Schweigespiralen so hartnäckig sind.
    Quelle: Originalarbeit Milgram 1963 (PDF).

Warum das hier wichtig ist: Diese Mechanismen erklären, warum Opfer nach dem ersten Unrecht noch einmal verletzt werden – durch Systeme, die sich selbst schützen. Und mit jeder weiteren Verletzung vertieft sich die Überzeugung des Opfers selbst schuld zu sein. Man fragt sich wirklich, ob hier mehr dahinter steckt als eine zufällige Orchestrierung verschiedener destruktiver Dynamiken.

4) DSGVO & „informelle Warnungen“ (keine Rechtsberatung)

  • Grundprinzipien: Personenbezogene Daten dürfen nur rechtmäßig, zweckgebunden, minimal und transparent verarbeitet/weitergegeben werden (Art. 5 DSGVO – Prinzipien; Überblick: EU-Kommission).
  • Auskunftsrecht: (Ex-)Beschäftigte können Auskunft über verarbeitete Daten verlangen (Art. 15 DSGVO). Praxisnahe Einordnungen: WKO-FAQ, Überblick Chambers.
  • Problem „informelle Referenzen“: „Warnanrufe“ oder pauschale Negativeinschätzungen ua. durch frühere Vorgesetzte oder Personalbedienstete ohne Rechtsgrundlage/Transparenz widersprechen regelmäßig den DSGVO-Prinzipien (Rechtsgrundlage, Zweckbindung, Datenminimierung).

Warum das hier wichtig ist: Informelle Schwarze-Listen-Mechaniken verstärken sozialen Kannibalismus – und unterlaufen geltende Datenschutzprinzipien. Und auch hier wieder das Muster, welches sich mM nach wie ein roter Faden durchzieht: Es reicht nicht das Opfer zu schädigen, nein es muss auch noch durch Existenzvernichtung öffentlich gedemütigt und vollständig ruiniert werden. Diese Vorgangsweise erinnert weniger an bürokratische Prozesse als mehr an „rituelle“ Abläufe.


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Warum wir darüber reden müssen

Sozialer Kannibalismus ist kein Randthema – er betrifft uns alle:

  • In Unternehmen: Verlust von Talenten, innere Kündigung, vergiftete Kultur.
  • In Politik & Gesellschaft: Erosion von Vertrauen, Polarisierung.
  • Für jeden Einzelnen: Die Angst, selbst der Nächste zu sein – und der Verlust von Rückhalt, ganz zu schweigen von Lebenssinn in einer systematisch verrohten Sozialumgebung.

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Ausblick: Wege aus dem Kannibalismus

  • Aufklärung & Sprache: Begriffe wie „Sozialer Kannibalismus“ schaffen Sichtbarkeit.
  • Schutz statt Schuld: Opfer schützen statt pathologisieren („Eigenanteil“ nicht missbrauchen).
  • Strukturen ändern: Schweigespiralen durchbrechen, klare Meldesysteme, Datenschutz ernst nehmen.
  • Netzwerke stärken: Familie, Freunde, Communities – sozialer Schutz ist Gesundheitsschutz.
  • Forschung & Monitoring: Zusammenhänge systematisch erfassen (Mobbing ↔ Gesundheit ↔ Isolation ↔ Kündigung).

Fazit

Sozialer Kannibalismus ist mehr als eine Metapher. Er beschreibt reale Mechanismen, mit denen eine Gesellschaft ihre Schwächsten entwürdigt. Erst wenn wir diese Muster benennen und die Netzwerke der Betroffenen stärken, wird Veränderung möglich – im Privaten, in Unternehmen und im öffentlichen Raum.